Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde,
der erste Fastentag der diesjährigen Fastenaktion vom 24.
Juli bis 9. August bis zum Abzug aller Atomwaffen aus Deutschland hat begonnen.
Es ist die 13. Aktion in Folge mit jährlich einem weiteren Tag, indem jeweils
ein Tag eher begonnen wird. Das erweckt den Eindruck von Routine, doch in
diesem Jahr ist vieles anders. Das sind nicht zuletzt die Rahmenbedingungen,
die mit dem Ukraine-Krieg eine schreckliche Zuspitzung gefunden haben.
Nach der Wiedervereinigung fand eine ununterbrochene Folge
von Kriegen statt, u. a. von Jugoslawien über Kuweit, Somalia, Afghanistan,
Irak nach Syrien, jeweils mit mehr oder weniger Beteiligung der Bundeswehr. Nun
ist es zum ersten Mal ein Krieg mit einer Atommacht in Europa (zuvor gab es
Kriege der Atommächte Pakistan und Indien).
Nach ihrem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die
Ukraine spricht Russland offen über einen Atomwaffeneinsatz, allerdings nur,
wenn es sich einer „existentiellen Bedrohung“
ausgesetzt sieht. Die NATO schließt einen Ersteinsatz von Atomwaffen nicht aus.
Führende Politiker fordern mehr und stärkere Waffen für die Ukraine. Damit tragen
sie zur Eskalation des Konfliktes bei. Gleichzeitig beschwichtigen sie, dass
eine Atomkriegsgefahr nicht bestünde. Jede Eskalation führt aber näher an die
Schwelle des Atomwaffeneinsatzes. Russland hat nicht definiert, was eine
„existentielle Bedrohung“ sei und die NATO lässt ihre Abschreckungsdoktrin
bewusst offen. Somit kann absichtlich oder unabsichtlich („Atomkrieg aus
Versehen“) eine Lage entstehen, die uns gefährlich nah an den Rand eines
Atomkrieges führt. Betroffen wären in erster Linie alle Menschen in Europa und
dann die ganze Menschheit.
Trotz dieser massiven Drohung bleibt die Resonanz auf diese
Bedrohung merkwürdig verhalten. Im Gegenteil, unter dem Eindruck des Krieges
scheint sich kurzfristig eine Mehrheit der Deutschen für die atomare
Abschreckung auszusprechen.
Die Atomwaffenfrage hatte aber speziell in Deutschland immer
einen schweren Stand und das, obwohl der Befehl zum Abwurf der Atomwaffen der Vereinigten Staaten von Amerika von deutschem Boden ausging: Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Harry S. Truman, hielt sich im August 1945 in Potsdam zu den dortigen Konferenzen der Alliierten auf. Er weilte in einer Villa, die noch heute zu sehen ist. Von dort befahl er während der Konferenz den Abwurf, letztlich um der Sowjetunion zu demonstrieren, dass die Vereinigten Staaten von Amerika die einzig verbliebene Weltmacht ist.
Als dann am 6. und 9. August über Hiroshima und Nagasaki die
Atomwaffen der Vereinigten Staaten von Amerika explodierten, waren die Menschen
in Deutschland mit anderen Fragen beschäftigt. Dass der zweite Weltkrieg erst
am 2. September 1945 mit der Kapitulation Japans endete, ist im breiten
historischen Bewusstsein in Deutschland nicht angekommen, hier gilt immer noch
der 8. Mai 1945 als Hauptdatum.
In Deutschland wurde durch eine Meldung von Radio Tokio vom
22.08.1945 der Einsatz von zwei Atombomben bekannt (Archiv der Gegenwart, AdG, Dokument-Nummer
00389 vom 22.08.1945). In Deutschland herrschte im Sommer 1945 Hungersnot (AdG
00285 vom 22.06.1945; Probst Heinrich Grüber in einem offenen Brief, AdG 00356 vom
07.08.1945: „Tausende und Zehntausende sterben auf den Landstraßen vor Hunger
und Entkräftung“). Der von der nationalsozialistische Propaganda weidlich
ausgenutzte sogenannte Morgenthauplan – Deutschland nach dem Krieg vollständig
zu entindustrialisieren (AdG 06545 vom 04.10.1944) – war auch nach dem Krieg präsent (AdG 01209
vom 01.10.1947; 01401 vom 28.02.1948), obwohl er seit September 1944 fallen
gelassen worden war (Wikipedia Art. Morgenthau-Plan, eingesehen am 25. Juli
2022). Der Marshallplan zeichnete sich aber erst von September 1946 ab an
(Wikipedia Art. Marshallplan, eingesehen am 25. Juli 2022), das Archiv der Gegenwart
verzeichnet es zum ersten Mal ersten Mal am 20.06.1947 (Nr. 01122).
Es ist also davon auszugehen, dass bei die Mehrzahl der
deutschen Bevölkerung kaum Interesse hatte noch Bereitschaft dafür vorhanden war,
genau zu verfolgen, was in Hiroshima und Nagasaki geschehen ist. Es ist im
Gegenteil zu befürchten, dass weitere Gründe dafür sprechen, dass je länger je
mehr die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki bekannt wurden, sie auf
eine spezifisch deutsche Weise aufgenommen wurden.
Die deutschen Verbrechen an den Völkern der Sowjetunion nach
dem Überfall auf die Sowjetunion vom 22. Juni 1941 an und insbesondere gegen
die europäische jüdische Bevölkerung waren durchaus präsent, Millionen
deutscher Soldaten waren zumindest Augenzeugen und die Alliierten sorgten
dafür, dass die Verbrechen gegen europäische Juden in Deutschland bekannt
wurden. Das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal hat einen Teil dieser
Verbrechen in der Öffentlichkeit verhandelt und Verantwortliche dafür zur
Rechenschaft gezogen. Das Gericht achtete streng darauf nach völkerrechtlich
gültigen Grundsätzen zu urteilen, um sich gegen den Vorwurf einer
„Siegerjustiz“ wehren zu können. Die Tatsache, dass die
völkerrechtswidrigen und kriegsverbrecherischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima
und Nagasaki bis heute nicht juristisch verfolgt worden sind, nährt aber genau
diese Vorbehalte. Sie mögen von vielen Deutschen zumal so aufgenommen worden
sein, dass wenn doch „die Amerikaner“ auch solche Verbrechen begehen, dann
können „die Deutschen“ nicht so schlimm sein. Man nahm also die Komplizenschaft
derer wahr, die nach dem Begehen eines Verbrechens auf deren Straflosigkeit
bedacht sind.
Die vorbehaltlose Ablehnung der Atombombenabwürfe der
Vereinigten Staaten von Amerika auf die beiden japanischen Städte war demnach
von Anfang an bei nur sehr wenigen Menschen gegeben.
Die Auseinandersetzung mit Atomwaffen litt gerade in
Deutschland unter einer weiteren Last:
Führende deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (Otto
Hahn und Lise Meitner) hatten vor dem Krieg die Kernspaltung entdeckt und ihr
Potential schnell erkannt. Ihre Forschung wurde von der Nationalsozialistischen
Regierung gefördert, da sie sich auf militärische Nutzung bezog. Dies förderte u.
a. bei A. Einstein die Phantasie, Deutschland wäre in der Lage eine Atombombe
zu bauen und führte dazu, dass er dringlich alle Anstrengungen der Vereinigten
Staaten von Amerika einforderte, den Deutschen zuvor zu kommen (Manhattan-Projekt).
In Deutschland wurde ein erster Atomreaktor gebaut und seit 1940 betrieben. Es
gibt gut begründete Vermutungen, dass Menschenversuche mit einer sogenannten
dreckigen Atombombe stattfanden (am 4. März 1945 mit 500 bis 700 KZ-Häftlingen als Opfer
in Ohrdruf, Strahlentelex Nr. 436-439 vom 03.03.2005 und 07.04.2005). Zu einer
Atombombe wie die, die Hiroshima und Nagasaki zerstörte, waren die
deutschen Wissenschaftler allerdings nicht in der Lage (s. Protokolle der
heimlich abgehörten Gespräche von deutschen in Farm Hall gefangen gehaltenen
Atomwissenschaftler). Sie hatten sich mit
einem verbrecherischen Regime eingelassen und deren apokalyptischen
Großmachtphantasien mit ihrer Forschung bedient.
Nach dem Krieg waren der deutsche Atomphysiker Karl Bechert
im Verbund mit Albert Schweitzer die einzigen namhaften Wissenschaftler, die
sowohl gegen die sogenannte zivile als auch militärische Nutzung der Atomkraft
kämpften. Sie wurden von der Mehrheit der deutschen Wissenschaftler nicht
gehört. Vermutlich auch aus dem Grunde, weil in der zivilen Nutzung der
„Kernenergie“ einige der führenden Atomwissenschaftler eine in der
Öffentlichkeit geachtete biografische Fortsetzung ihrer atomwissenschaftlichen
Forschungen fanden (C. F. von Weizsäcker, W. Heisenberg). Die bekanntesten von
ihnen lehnten zwar die Atomwaffen ab (Göttinger Erklärung 1957), aber nicht die
sogenannte zivile Nutzung der Kernenergie. Damit aber war die Friedensbewegung
gespalten. Auch in den folgenden Jahrzehnten gab es nur hin und wieder ein
gemeinsames Agieren der Anti-Atomkraft- mit der Anti-Atomwaffenbewegung, dies
vor allem nach der dreifachen Fukushima-Katastrophe am 11. März 2011.
Während des Kalten Krieges bestand fortwährend die
Atomkriegsgefahr. Selbst Raketenwerfer der Bundeswehr, die nicht weiter als 40
km entfernte Ziele erreichen können, waren mit Atomsprengköpfen ausgestattet
(mündliche Aussage eines Oberstleutnants an der Artillerieschule Idar-Oberstein
1998). Erst die Aufrüstung mit Pershing II-Raketen und der drohende Einsatz von
SS-II-Raketen führte die Brisanz der Lage neu vor Augen. Hundertausende ließen
sich mobilisieren gegen die Aufrüstung zu demonstrieren und beeindruckten damit
sowjetische Militärs und Politiker. Davon sind wir heute – obwohl die
politische Lage während eines Krieges in der Ukraine mit einem Atomwaffenstaat
noch nie so heiß war wie jetzt – noch weit entfernt.
Die Leidenschaft für das Leben, sich für eine Welt ohne
Atomwaffen einzusetzen, befindet sich seit Jahren in einer außerordentlichen
Geduldsprobe. Die in den zurückliegenden Jahren erreichten Erfolge
(IGH-Gutachten, Atomwaffenverbotsvertrag) lassen hoffen. Die Aussichten auf
eine Massenbewegung in Deutschland gegen Atomwaffen sind hingegen gegenwärtig
nicht gerade rosig. Die aktuelle Bedrohung scheint nicht als unmittelbar
wahrgenommen zu werden, hoffentlich ist dies keine Täuschung.