Mittwoch, 3. August 2022

Das sich ausweitende Fasten bis zum Abzug aller Atomwaffen - Zur Vorgeschichte der Fastenaktion

Schon lange fasten Menschen in der ganzen Welt in der Zeit vom 6. bis zum 9. August in Erinnerung an die Zerstörung Hiroshimas und Nagasakis durch Atombomben der Vereinigten Staaten von Amerika an diesen Tagen 1945, aus Solidarität mit den notleidenden Opfern und ihren Hinterbliebenen und zur Mahnung für eine atomwaffenfreie Welt.

 

Das Fasten lernte ich auf einem ganz anderen Weg kennen. Im Protestantismus groß geworden wusste ich nichts von kirchlichen Fastentagen. Ich wusste, dass es Katholiken gab, die fasteten, konnte im Alltag aber keine gravierenden Unterschiede zu den sonstigen Gewohnheiten feststellen. Zu fasten, vollständig auf Zeit auf alle Nahrung zu verzichten, erschien mir als absurd. Von Gandhi vernahm ich zwar, dass er regelmäßig und zu verschiedenen Anlässen fastete, dies ordnete ich dem hinduistisch geprägten Kulturraum zu und machte es für mich damit bedeutungslos.

 

1985/86 studierte ich neun Monate zu Sören Kierkegaard in Kopenhagen. Im kopenhagener Christlichen Verein junger Menschen lernte ich einen jungen Mann kennen – wobei ich nur wenig älter war – der mir begeistert von seinen Erfahrungen eines dreitägigen Heilfastens erzählte und mich dazu ermutigte, auch solch eines zu halten. Ich lehnte dies rigoros ab. Merkte aber, wie es mich dennoch interessierte. Nach mehreren Monaten entschloss ich mich dann dazu ein dreitägiges Fasten zu halten – außer Wasser und Tee sonst nichts zu mir zu nehmen. Aus Angst vor dieser Zeit aß ich am Vortag vor Beginn des Fastens, was ich nur essen konnte. Ich ging an Bäckereien vorbei und verspürte eine unsägliche Lust, sie zu entern und zu überfallen. Ich kam meiner Esssucht auf die Spur und war darüber überrascht. Suchtähnliche Strukturen hatte ich in meiner Familie verschiedene ausgemacht – Alkohol, Nikotin, Drogen – sah mich aber selber weit davon entfernt. Jetzt musste ich mir eingestehen, dass solche Abhängigkeitsstrukturen, die mir mein Wohlbefinden garantieren sollten, sich bei mir selbst befanden. Ich war dankbar für diese Erfahrung. Sie bewahrte mich auf diesem Weg auch vor einer Kaffeeabhängigkeit – meine Kaffeemaschine verschenkte ich und gewöhnte mir an morgens keine Gewohnheit zu haben, was ich regelmäßig trinken. Noch in der Zeit in Kopenhagen hielt ich ein zweites dreitägiges Fasten.

 

Meine nächste Erfahrung mit Fasten machte ich mehrere Jahre später, als ich bereits während meiner Zeit als Militärpfarrer in der Bundeswehr meine Wende zur Gewaltfreiheit (wieder) gefunden hatte und Mitglied des deutschen Zweiges des Internationalen Versöhnungsbundes geworden war. Ich erhielt eine Mail, die um geistliche Unterstützung für eine Delegationsfahrt des Versöhnungsbundes nach Israel/Palästina zu der Zeit bat, als die Nachrichten über palästinensische Selbstmordattentate in Israel fast täglich die Schlagzeilen bestimmte, April 2002. Die Unterstützung, so die Bitte, solle darin bestehen, während der Zeit, die die Gruppe in Israel/Palästina ist, zu fasten und zu beten und dies der Gruppe mitzuteilen. Es war eine Reise von 8 Tagen. Ich fragte zuvor meine Hausärztin, was sie davon hielte. Sie ermutigte mich dazu und berichtete mir von den aufschlussreichen Erfahrungen mit Heilfasten bei übergewichtigen Hafenarbeitern, die während ihrer Arbeit auf die gleiche Weise fasteten: Keine Nahrung, sondern nur Getränke zu sich nehmen. Während dieser acht Tage erlebte ich zum ersten Mal, wie sich mein Körper auf das Fasten einstellt: Völlig anders als beim ersten Mal in Kopenhagen konnte ich nun mit der Familie am gedeckten Küchentisch sitzen und für mich problemlos fasten. Ich fand ein Gebet, das mich noch später viele Jahre begleitete.

 

Im gleichen Jahr stieg ich in die aktive Arbeit im Kampf gegen Atomwaffen ein. Ich lernte Menschen im Umfeld des Atomwaffenlagers Büchel kennen, die sich z. T. schon lange dieser Aufgabe gewidmet hatten. Durch meine Anregung entstand der Initiativkreis gegen Atomwaffen, der mit sieben jeweils einmal jährlichen Umrundungen um das Atomwaffenlager – „Jericho in der Eifel“ – auf sich aufmerksam machte. Die letzte siebte Umrundung 2008 war eingebettet in eine einwöchige großangelegte Veranstaltungsreihe rund um das Atomwaffenlager mit einer abschließenden Veranstaltung mit Nina Hagen als Hauptkünstlerin auf der Bühne. 

 


Noch nie kamen soviele Menschen aus ganz Deutschland zu dieser Schlussveranstaltung mit über 2.000 Menschen. Wie sollte es danach sinnvoll weitergehen? Für den Sommer 2009 lud ich zu einem breitangelegten „Rosen-Go-In“ in das Atomwaffenlager ein. Wir waren am Ende mit mir drei Aktivistinnen und Aktivisten, die sich im Rahmen eines Dauercamps in der Nähe vom Atomwaffenlager darauf vorbereiteten.  Schließlich betraten wir mit Rosen in beiden Händen an der Wache vorbei das Verwaltungslager zum Atomwaffenlager Büchel in Cochem-Brauheck, folgten den Anweisungen der Soldaten, ließen uns von der Polizei in Gewahrsam nehmen und unsere Personalien feststellen. Dies war meine erste und bislang einzige Aktion zivilen Ungehorsams. Anfang 2010 wurde ich wegen Hausfriedensbruch zu einer dreistelligen Geldzahlung für einen gemeinnützigen Zweck – hier die Tafel von Cochem-Zell – verurteilt. Dies war die geringstmögliche Strafe, da der Richter vermeiden wollte, einen Pfarrer mit Gefängnisstrafe zu verurteilen. Es war das erste Mal, dass der Richter so verfuhr. Diese Aktion wurde ohne viele Worte verstanden und die gerichtliche Verurteilung erntete auch in meiner Kirchengemeinde viel Kopfschütteln. Und wie sollte es weitergehen?

 

Jedes Mal, wenn ich mich dem Atomwaffenlager Büchel näherte, empfand ich das gleiche Unbehagen an einem Ort zu sein, der vor Todesdrohung nur so starrt, im krassen Gegensatz zur Landschaft, den Bäumen, dem Licht und dem Wind, wenn man unterm Ahornbaum am Haupttor zum Atomwaffenlager steht. Stets neu überfällt mich eine Wahrnehmung von Ohnmacht die sich im absoluten Gegensatz zum Allmachtswahn sieht, die die Atomwaffen verkörpern.

 

Ich las davon, dass ein Friedensaktivist im Osten Deutschlands, aktiv im Kampf gegen einen Truppenübungsplatz der Bundeswehr, „Bombodrom“, jedes Jahr für sich vom 6. bis zum 9. August fastete. Das brachte mich auf die Idee, die Ohnmacht umzukehren: Aus der Verschlossenheit, die Ohnmacht bewirkt, an die Öffentlichkeit; heraus aus der Untätigkeit, zu der Ohnmacht verführt, in die Tat; weg von der Gewaltverführung, die Ohnmacht mit sich bringt, hin zur gewaltfreien Aktion: Die Idee zum öffentlichen Fasten war geboren. Mir war klar, wie nötig es ist, dass mehr geschieht, dass mehr Menschen auf die Straßen gehen und gegen die Atomwaffen protestieren. Dass Soldaten bekennen, dass sie mit Atomwaffen nichts zu tun haben wollen. Dass bislang Unbeteiligte entdecken, dass sie sehr wohl etwas mit Atomwaffen zu tun haben – eine Bedrohung, die jetzt während des Ukrainekrieges nicht mehr abstrakt ist und als „Atomkrieg aus Versehen“ schon immer bestand und besteht.

 

Um dieses durch die Art der Aktion deutlich zu machen, entstand das sich ausweitende öffentliche Fasten, das jedes Jahr einen Tag länger dauert, indem es einen Tag eher anfängt und am 9. August endet, solange, bis die Atomwaffen der Vereinigten Staaten von Amerika aus Deutschland abgezogen worden sind.

 

Schon während der ersten drei Fastenaktionen entstand durch Wolfgang Schlupp-Hauck, Schwäbisch-Gmünd, ein Kontakt zu einer französischen Fastengruppe, die in Paris mit gorßer Unterstützung vom 6.-9. August fastet. Wolfgang Schlupp-Hauck hat selber in einem Jahr daran teilgenommen und er berichtete davon.

 

2017, bei der 8. Fastenaktion, kam dann Serge Levillayer vom Mont St. Michel dazu. Er fastete die ganze Zeit mit und begleitete das Fasten von Anbeginn in Schwäbisch-Gmünd an. Seitdem fastet er das sich ausweitende Fasten mit. 2019 ließen wir das Fasten bei ihm am Mont St. Michel beginnen. Von ihm erfuhr ich, warum er schon seit Jahren in der Zeit vom 6. bis 8. August gefastet hat:

 

Trotz aller Proteste ging 1983 das nukleare Wettrüsten weiter. Am 6. August 1983 traten elf Menschen, denen sich im Verlauf sieben weitere anschlossen, an sechs verschiedenen Orten in den Vereinigten Staaten von Amerika, in Frankreich, in Kanada, Deutschland, Österreich und der Schweiz in ein unbefristetes Fasten, das sie „Fasten für das Leben“ nannten. „Adressaten des Fastens waren zum einen die Fastenden selbst. Denn ihnen graute vor dem Bösen in Gestalt der Atomwaffen, ihrer Drohung und Anwendung und vor dem Bösen, das ‚… im kleinen in jedem … Wurzeln‘ schlage. Zum anderen waren alle Menschen angesprochen, die leben wollten, vor allem Militärs und Politiker.“[1] Mit dabei waren u. a. in Bonn Gerd Bünzley und Roland Vogt, in Österreich Dietmar Schönherr. Freundinnen und Freunde der Fastenenden in Paris, London und New York, so berichtete Serge Levillayer, sind während ihres Fastens an sie herangetreten und machten ihnen deutlich, dass sie Gefahr laufen, ihr Leben zu verlieren. Dies wollten sie nicht einfach hinnehmen und auch zugleich ihr Anliegen nicht schmälern. So versprachen sie jedes Jahr vom 6-8. August, vom Hiroshimagedenktag bis zum Nagasakigedenktag zu fasten mit der Forderung, dass alle Atomwaffen abgeschafft werden. Darauf ließen sich die Dauerfastenenden schließlich ein und beendeten ihr Fasten. Es war i. Ü. Roland Vogt, von dem ich von seinem regelmäßigen Fasten vernommen hatte.

 


Als im letzten Jahr in Berlin ein unbefristeter Hungerstreik für das Klima ausgerufen wurde, war dies der Anlass aus Solidarität für vier Tage mitzufasten und den Beteiligten diesen Hungerstreikes einen Brief zu schreiben und sie – aus den Erfahrungen mit den unbefristeten Fastenenden von 1983 heraus – zu bewegen zu einem befristeten Fasten überzugehen, s. https://www.versoehnungsbund.de/2021-09-26-unterstuetzung-der-anliegen

 

 

 

 



[1] Russmann, Paul: Fastenaktion heute. Wissenschaftliche Hausarbeit. Münster, 1985. Bislang unveröffentlicht, S. 51.

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