Mittwoch, 3. August 2022

Die Leidenschaft für das Leben - Brief an Freundinnen und Freunde der Fastenaktion

Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde,

die 13. Fastenaktion bis zum Abzug aller Atomwaffen aus Deutschland ist keine Massenbewegung, ganz im Gegenteil. Von Anfang an, vom 24. Juli abends an, fasten Serge Levillayer, Mont St. Michel, Lothar Eberhardt; Berlin und ich.  Vom 6.-8. August werden wir mit Freunden der internationalen Fastenaktion aus Frankreich und Großbritannien in Berlin gemeinsam fasten und dort, s. das bereits versandte Programm, Mahnwachen vor allen atomwaffenführenden Staaten sowie dem Bundeskanzleramt halten.

Es gibt viele Arten zu fasten. Ich lehne mich an die Art und Weise an, wie Gandhi gefastet hat: Ich verzichte auf alle Nahrungsmittel und trinke viel. Täglich eine Zitrone und eine Elektrolytenlösung halten den nötigen Stoffwechsel aufrecht. Falls Magnesiummangel auftritt hilft eine Brausetablette und zweimal habe ich mir inzwischen einen Löffel Honig gegönnt. Die Gründe auf diese Weise zu fasten sind eher pragmatisch: Es erspart mir das Nachdenken darüber, was jetzt noch zu essen möglich sei oder nicht (unter soundsoviel Kalorien täglich etc.) Ich habe, seitdem ich es das erste Mal so gehalten habe, mit dieser Art gute Erfahrungen gemacht und – bislang - keinen Anlass es zu ändern.

Dieses Fasten hat für mich eine existentielle und zugleich gesellschaftliche Bedeutung. Es ist meine Art, wie ich auf mehrere äußerst erschreckende und zusammenhängende Entwicklungen antworte:

- die Bedrohung der Menschheit und allen Lebens durch den Bau, die Anwendung und Androhung von Atombomben,

- die Missachtung des geltenden Völkerrechts auch von meiner Bundesregierung, die den Tenor des Gutachtens des Internationalen Gerichtshofes von Den Haag vom 8. Juli 1996 zur Androhung und Anwendung von Atomwaffen bis heute verachtet,

- die Missachtung des Nichtverbreitungsabkommen durch die deutsche Bundesregierung und die fünf mit Vetorecht ausgestatteten Atommächte, die entgegen der darin eingegangenen Verpflichtung alle Atomwaffen auf null abzurüsten nichts in diese Richtung getan haben; sie haben im Gegenteil mitverursacht, dass es inzwischen neun atomwaffenführende Staaten gibt,

- der Krieg in der Ukraine, der hätte verhindert werden können, wenn der Perspektivwechsel vollzogen worden wäre, die Lage auch einmal mit russischer Brille zu sehen: Eine neutrale Ukraine mit einer Anbindung an die EU nach dem Vorbild der Schweiz wäre für niemanden eine Katastrophe; die vielen seit Beginn des Krieges ums Leben gekommenen Zivilisten und Soldaten auf beiden Seiten hingegen schon,

- das Sterben von weltweit jährlich ca. 30.000 bis 40.000 Menschen, vor allem Kinder, weil sie nicht rechtzeitig sauberes Wasser und Medikamente erhalten und dies, nicht weil die Mittel dafür nicht zur Verfügung stünden, sondern weil der politische Wille dazu fehlt; Geld und Gaben, die für das Militär  und speziell für Atomwaffen zur Verfügung stehen, fehlen im Einsatz für das Leben,

- die Gleichgültigkeit, mit der die Mehrheit der deutschen und europäischen Bevölkerung die Bedrohung des Lebens durch Atomwaffen hinnimmt,

- die Routiniertheit, mit der Soldaten ihren Dienst in der Bundeswehr leisten und sich bislang mit wenigen Ausnahmen weigern offen gegen Atomwaffen Stellung zu beziehen; die interne Ablehnung scheint – vielleicht auch durch diese Fastenaktionen – gestiegen zu sein; entscheidend ist jedoch die faktische Ablehnung, die niemand im Voraus weiß; die sicherste Variante ist es jedoch, überhaupt nicht über Atomwaffen zu verfügen,

- die Profiteure und Profiteurinnen dieser Entwicklungen, die mit ihrer Macht, ihren Beziehungen und ihrem Wissen verhindern, dass sich an dieser Situation etwas ändert.

 

Diese, jede für sich bereits bei rechter und ruhiger Betrachtung bereits zu Tode erschreckenden Entwicklungen, kann ich seitdem ich Militärpfarrer in der Bundeswehr war und zu meinem Bereich die Kommandozentrale in Birkenfeld für das atomar bestückte Jagdbombergeschwader 33 in Büchel gehörte, nicht mehr aus meinem Leben verdrängen. Ich verspüre todbringende Kräfte, die nicht nur mich, sondern die ganze Welt bedrohen.

 

Diesen todbringenden Kräften setze ich die Leidenschaft für das Leben entgegen. Das bedeutet für mich, sich allein gewaltfrei mit den todbringenden Kräften auseinander zu setzen. Diese Leidenschaft für das Leben rührt für mich von Jesus von Nazareth her. Durch das, was von ihm überliefert wurde, ist mir deutlich geworden, dass das Leben nicht vom Tod begrenzt wird – das würde allen todbringenden Kräften eine gewisse Legitimation verschaffen -, sondern dass der Tod vom Leben begrenzt wird: Denn Leben kommt vom Leben. Die Botschaft vom Leben Jesu und seinem Wirken, von seiner Hinrichtung und seiner verwandelnden körperlich-leiblichen Gegenwart als Kreis seiner Freundinnen und Freunde, haben mich dafür empfänglich gemacht, mich mit diesen genannten todbringenden Kräften auseinander zu setzen. Ich bringe in Anschlag, was Jesus bewegt hat, Menschen aufzurufen, Gewalt zu unterbrechen – „tut Buße“ – umzukehren und anders und neu anzufangen – „denn das Himmelreich ist nahe herbei gekommen“. Das ist das Wirken der Güte.

 

Die Leidenschaft für das Leben äußert sich darin, dass ich durch dies politische Fasten ins gesellschaftliche Aus trete. Essen und Trinken gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Sie haben gesellschaftliche Bedeutung. Sie tragen mit dazu bei, eine Grundsolidarität aller miteinander innerhalb dieser Gesellschaft erlebbar zu machen.

 

Der Ausschluss hungernder Menschen, der durch Krieg und Aufrüstung praktizierte Ausschluss von Menschen, die Verunmöglichung von einem Leben ohne die tägliche Bedrohung durch Atomwaffen – diese todbringenden Ausschlussmechanismen werden mit dem öffentlichen Fasten sichtbar. Das Betreten des gesellschaftlichen Aus kennzeichnet die benannten alltäglichen Gewohnheiten als todbringend.

 

Es wird deutlich, dass es etwas gibt, das wichtiger ist als Essen und Trinken, nämlich die Leidenschaft für das Leben, die Ermutigung Gewalt zu unterbrechen – „tut Buße“ -, umzukehren und in Gemeinschaft neu und anders anzufangen.

 

Fastenzeiten in vielen verschiedenen Weisen sind in vielen Religionen üblich. Sie finden zu bestimmten Zeiten und in Gemeinschaft statt. Die damit wahrgenommene Auszeit wird begrenzt durch ein abschließendes Fest. Das Fest, das wir mit diesem politischen Fasten erstreben, ist der Abzug aller Atomwaffen aus Deutschland.

 

Damit unterscheidet sich dieses Fasten auch grundlegend und im Detail von einem Hungerstreik. Dieser übt Zwang aus, indem die Durchsetzung einer Forderung von der Fortexistenz des eigenen Lebens abhängig gemacht wird, die Verweigerung dieser Forderungen mit dem bewusst in Kauf genommenen Ende des eigenen Lebens verknüpft wird.

 

So verständlich dies im Einzelfall sein mag – s. Klimahungerstreik 2021 in Berlin und Brief der Fastenaktion an die Klimastreikenden[1] – es ist nicht gewaltfrei und steht in Gefahr die Leidenschaft für das Leben zu verlieren.

 

Solch ein Hungerstreik vermag u. U. viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es bleibt fraglich, inwieweit auch die Motivationskerne erreicht werden, warum Menschen so und nicht anders handeln. Genau diese Motivationskerne werden mit dem Fasten anvisiert: Dass Menschen von sich aus sich von der Gewalt der todbringenden Kräfte abkehren und die Leidenschaft für das Leben in ihrem Leben wirken lassen.

 

Während dieser Fastenaktion ist mir zusätzlich deutlich geworden: Der Gewaltglaube, der Glaube sich mit Gewalt verteidigen zu müssen und zu meinen, mit Gewalt Probleme „lösen“ zu können, hat Suchtcharakter. Gewalt ist gesellschaftlich tief vor allem in den Familien verankert. Es ist in meinen Augen verhängnisvoll, dass in der Diskussion um Gewalt zwar die individuelle, strukturelle und kulturelle Gewalt in den Blick genommen wird, aber nicht die familiäre Gewalt, die mit allen dreien zu tun hat und doch etwas Eigenes ist. Die familiäre Gewalt und ihre Überwindung wird m. W. menschheitsgeschichtlich zum ersten Mal im Alten Testemant in der Jakob-Esau-Novelle, 1. Buch Mose Kapitel 25,19-33 thematisiert. Gewaltfreiheit in der Familie hat darum enorme gesellschaftliche Auswirkungen. Zusätzlich gibt es gesellschaftlich-politische Strukturen, Abhängigkeiten von der Rüstungsindustrie, die daran interessiert sind, dass diese ihre Waffen verkaufen kann und bei jedem Krieg die Profite höher schraubt. Diese doppelte Verankerung des Gewaltglaubens, in der Familie und in der Gesellschaft, führen m. E. zu einer suchtartigen Abhängigkeit: Man benötigt die Gewalt für sein eigenes Wohlbefinden. Ohne einen Gewaltentzug – um im Bild der Suchtbehandlung zu sprechen -, einen Gewaltentzug in der familiären Gewalt und einen Gewaltentzug im gesellschaftlich-politischen Raum, wird es kaum gehen. Wie dieses gestaltet werden kann, ist mir gegenwärtig noch unklar.  Zu solch einem Entzug ist aber erfahrungsgemäß erst dann die Bereitschaft da, wenn ein Zusammenbruch voraus gegangen ist. So wie es Thornton Wilder in seinem Theaterstück „Wir sind noch einmal davongekommen“ schildert, in dem nach jedem Krieg die Überlebenden schwören „Nie wieder Krieg“, aber kurze Zeit später den nächsten vorbereiten. Wenn diese familiär-gesellschaftliche Gewaltsucht nicht durch einen Gewaltentzug durchbrochen wird, ist es m. E. kaum möglich, hier dauerhaft etwas zu verändern. Es sei denn, wir finden dennoch Wege, damit anzufangen. Das Thema der 12. Fastenaktion des vergangenen Jahres „Unterbrechen von Gewalt- Tut Buße! Kehr um!“ ging auch schon in die Richtung dieser Thematik.

 

Was jetzt aber schon möglich ist, ist, dass Menschen, die der Gewalt absagen, sich zusammentun und sich darüber austauschen, wie ihr Gewaltentzug aussah. Von Jesus wird überliefert, dass er – bevor er öffentlich auftrat – sich 40 Tage in die Wüste zurückzog und dort fastete. Ich verstehe dies als vollständigen Gewaltenzug, eine Entgiftung von allem Todbringenden.

 

Eine Chance dazu kann auch diese Fastenaktion sein, im persönlichen, gesellschaftlichen und internationalem Bereich, mit der Leidenschaft für das Leben dem Todbringenden zu wehren.

 

Ich wünsche Euch eine gute Zeit!
Euer Matthias

 

Köln-Merkenich, am Mittwoch, den 3. August 2022, am 10. Fastentag der 13. Fastenaktion bis zum Abzug aller Atomwaffen aus Deutschland, fastenkampagne.blogspot.com https://padlet.com/distelwenk/p2w8c334jlemy4wv


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