Montag, 25. Juli 2022

Fasten im Ukrainekrieg - Brief zum ersten Fastentag

Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde,

 

der erste Fastentag der diesjährigen Fastenaktion vom 24. Juli bis 9. August bis zum Abzug aller Atomwaffen aus Deutschland hat begonnen. Es ist die 13. Aktion in Folge mit jährlich einem weiteren Tag, indem jeweils ein Tag eher begonnen wird. Das erweckt den Eindruck von Routine, doch in diesem Jahr ist vieles anders. Das sind nicht zuletzt die Rahmenbedingungen, die mit dem Ukraine-Krieg eine schreckliche Zuspitzung gefunden haben.

Nach der Wiedervereinigung fand eine ununterbrochene Folge von Kriegen statt, u. a. von Jugoslawien über Kuweit, Somalia, Afghanistan, Irak nach Syrien, jeweils mit mehr oder weniger Beteiligung der Bundeswehr. Nun ist es zum ersten Mal ein Krieg mit einer Atommacht in Europa (zuvor gab es Kriege der Atommächte Pakistan und Indien).

Nach ihrem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine spricht Russland offen über einen Atomwaffeneinsatz, allerdings nur, wenn es sich einer „existentiellen Bedrohung“[1] ausgesetzt sieht. Die NATO schließt einen Ersteinsatz von Atomwaffen nicht aus. Führende Politiker fordern mehr und stärkere Waffen für die Ukraine. Damit tragen sie zur Eskalation des Konfliktes bei. Gleichzeitig beschwichtigen sie, dass eine Atomkriegsgefahr nicht bestünde. Jede Eskalation führt aber näher an die Schwelle des Atomwaffeneinsatzes. Russland hat nicht definiert, was eine „existentielle Bedrohung“ sei und die NATO lässt ihre Abschreckungsdoktrin bewusst offen. Somit kann absichtlich oder unabsichtlich („Atomkrieg aus Versehen“) eine Lage entstehen, die uns gefährlich nah an den Rand eines Atomkrieges führt. Betroffen wären in erster Linie alle Menschen in Europa und dann die ganze Menschheit.

Trotz dieser massiven Drohung bleibt die Resonanz auf diese Bedrohung merkwürdig verhalten. Im Gegenteil, unter dem Eindruck des Krieges scheint sich kurzfristig eine Mehrheit der Deutschen für die atomare Abschreckung auszusprechen.

Die Atomwaffenfrage hatte aber speziell in Deutschland immer einen schweren Stand und das, obwohl der Befehl zum Abwurf der Atomwaffen der Vereinigten Staaten von Amerika von deutschem Boden ausging: Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Harry S. Truman, hielt sich im August 1945 in Potsdam zu den dortigen Konferenzen der Alliierten auf. Er weilte in einer Villa, die noch heute zu sehen ist. Von dort befahl er während der Konferenz den Abwurf, letztlich um der Sowjetunion zu demonstrieren, dass die Vereinigten Staaten von Amerika die einzig verbliebene Weltmacht ist.

Als dann am 6. und 9. August über Hiroshima und Nagasaki die Atomwaffen der Vereinigten Staaten von Amerika explodierten, waren die Menschen in Deutschland mit anderen Fragen beschäftigt. Dass der zweite Weltkrieg erst am 2. September 1945 mit der Kapitulation Japans endete, ist im breiten historischen Bewusstsein in Deutschland nicht angekommen, hier gilt immer noch der 8. Mai 1945 als Hauptdatum.

In Deutschland wurde durch eine Meldung von Radio Tokio vom 22.08.1945 der Einsatz von zwei Atombomben bekannt (Archiv der Gegenwart, AdG, Dokument-Nummer 00389 vom 22.08.1945). In Deutschland herrschte im Sommer 1945 Hungersnot (AdG 00285 vom 22.06.1945; Probst Heinrich Grüber in einem offenen Brief, AdG 00356 vom 07.08.1945: „Tausende und Zehntausende sterben auf den Landstraßen vor Hunger und Entkräftung“). Der von der nationalsozialistische Propaganda weidlich ausgenutzte sogenannte Morgenthauplan – Deutschland nach dem Krieg vollständig zu entindustrialisieren (AdG 06545 vom 04.10.1944) – war auch nach dem Krieg präsent (AdG 01209 vom 01.10.1947; 01401 vom 28.02.1948), obwohl er seit September 1944 fallen gelassen worden war (Wikipedia Art. Morgenthau-Plan, eingesehen am 25. Juli 2022). Der Marshallplan zeichnete sich aber erst von September 1946 ab an (Wikipedia Art. Marshallplan, eingesehen am 25. Juli 2022), das Archiv der Gegenwart verzeichnet es zum ersten Mal ersten Mal am 20.06.1947 (Nr. 01122).

Es ist also davon auszugehen, dass bei die Mehrzahl der deutschen Bevölkerung kaum Interesse hatte  noch Bereitschaft dafür vorhanden war, genau zu verfolgen, was in Hiroshima und Nagasaki geschehen ist. Es ist im Gegenteil zu befürchten, dass weitere Gründe dafür sprechen, dass je länger je mehr die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki bekannt wurden, sie auf eine spezifisch deutsche Weise aufgenommen wurden.

Die deutschen Verbrechen an den Völkern der Sowjetunion nach dem Überfall auf die Sowjetunion vom 22. Juni 1941 an und insbesondere gegen die europäische jüdische Bevölkerung waren durchaus präsent, Millionen deutscher Soldaten waren zumindest Augenzeugen und die Alliierten sorgten dafür, dass die Verbrechen gegen europäische Juden in Deutschland bekannt wurden. Das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal hat einen Teil dieser Verbrechen in der Öffentlichkeit verhandelt und Verantwortliche dafür zur Rechenschaft gezogen. Das Gericht achtete streng darauf nach völkerrechtlich gültigen Grundsätzen zu urteilen, um sich gegen den Vorwurf einer „Siegerjustiz“ wehren zu können. Die Tatsache, dass die völkerrechtswidrigen und kriegsverbrecherischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki bis heute nicht juristisch verfolgt worden sind, nährt aber genau diese Vorbehalte. Sie mögen von vielen Deutschen zumal so aufgenommen worden sein, dass wenn doch „die Amerikaner“ auch solche Verbrechen begehen, dann können „die Deutschen“ nicht so schlimm sein. Man nahm also die Komplizenschaft derer wahr, die nach dem Begehen eines Verbrechens auf deren Straflosigkeit bedacht sind.

Die vorbehaltlose Ablehnung der Atombombenabwürfe der Vereinigten Staaten von Amerika auf die beiden japanischen Städte war demnach von Anfang an bei nur sehr wenigen Menschen gegeben.

Die Auseinandersetzung mit Atomwaffen litt gerade in Deutschland unter einer weiteren Last:

Führende deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (Otto Hahn und Lise Meitner) hatten vor dem Krieg die Kernspaltung entdeckt und ihr Potential schnell erkannt. Ihre Forschung wurde von der Nationalsozialistischen Regierung gefördert, da sie sich auf militärische Nutzung bezog. Dies förderte u. a. bei A. Einstein die Phantasie, Deutschland wäre in der Lage eine Atombombe zu bauen und führte dazu, dass er dringlich alle Anstrengungen der Vereinigten Staaten von Amerika einforderte, den Deutschen zuvor zu kommen (Manhattan-Projekt). In Deutschland wurde ein erster Atomreaktor gebaut und seit 1940 betrieben. Es gibt gut begründete Vermutungen, dass Menschenversuche mit einer sogenannten dreckigen Atombombe stattfanden (am 4. März 1945 mit 500 bis 700 KZ-Häftlingen als Opfer in Ohrdruf, Strahlentelex Nr. 436-439 vom 03.03.2005 und 07.04.2005). Zu einer Atombombe wie die, die Hiroshima und Nagasaki zerstörte, waren die deutschen Wissenschaftler allerdings nicht in der Lage (s. Protokolle der heimlich abgehörten Gespräche von deutschen in Farm Hall gefangen gehaltenen Atomwissenschaftler[2]). Sie hatten sich mit einem verbrecherischen Regime eingelassen und deren apokalyptischen Großmachtphantasien mit ihrer Forschung bedient.

Nach dem Krieg waren der deutsche Atomphysiker Karl Bechert im Verbund mit Albert Schweitzer die einzigen namhaften Wissenschaftler, die sowohl gegen die sogenannte zivile als auch militärische Nutzung der Atomkraft kämpften. Sie wurden von der Mehrheit der deutschen Wissenschaftler nicht gehört. Vermutlich auch aus dem Grunde, weil in der zivilen Nutzung der „Kernenergie“ einige der führenden Atomwissenschaftler eine in der Öffentlichkeit geachtete biografische Fortsetzung ihrer atomwissenschaftlichen Forschungen fanden (C. F. von Weizsäcker, W. Heisenberg). Die bekanntesten von ihnen lehnten zwar die Atomwaffen ab (Göttinger Erklärung 1957), aber nicht die sogenannte zivile Nutzung der Kernenergie. Damit aber war die Friedensbewegung gespalten. Auch in den folgenden Jahrzehnten gab es nur hin und wieder ein gemeinsames Agieren der Anti-Atomkraft- mit der Anti-Atomwaffenbewegung, dies vor allem nach der dreifachen Fukushima-Katastrophe am 11. März 2011.

Während des Kalten Krieges bestand fortwährend die Atomkriegsgefahr. Selbst Raketenwerfer der Bundeswehr, die nicht weiter als 40 km entfernte Ziele erreichen können, waren mit Atomsprengköpfen ausgestattet (mündliche Aussage eines Oberstleutnants an der Artillerieschule Idar-Oberstein 1998). Erst die Aufrüstung mit Pershing II-Raketen und der drohende Einsatz von SS-II-Raketen führte die Brisanz der Lage neu vor Augen. Hundertausende ließen sich mobilisieren gegen die Aufrüstung zu demonstrieren und beeindruckten damit sowjetische Militärs und Politiker. Davon sind wir heute – obwohl die politische Lage während eines Krieges in der Ukraine mit einem Atomwaffenstaat noch nie so heiß war wie jetzt – noch weit entfernt.

Die Leidenschaft für das Leben, sich für eine Welt ohne Atomwaffen einzusetzen, befindet sich seit Jahren in einer außerordentlichen Geduldsprobe. Die in den zurückliegenden Jahren erreichten Erfolge (IGH-Gutachten, Atomwaffenverbotsvertrag) lassen hoffen. Die Aussichten auf eine Massenbewegung in Deutschland gegen Atomwaffen sind hingegen gegenwärtig nicht gerade rosig. Die aktuelle Bedrohung scheint nicht als unmittelbar wahrgenommen zu werden, hoffentlich ist dies keine Täuschung.



[1] https://www.fr.de/politik/ukraine-news-russland-atomwaffen-einsatz-bedingungen-moskau-putin-krieg-91538077.html - eingesehen am 01.06.2022

[2] ausführlich zur Frage: Popp, Manfred: NS-Zeit: Darum hatte Hitler keine Atombombe. ZEIT 04.01.2017. http://www.zeit.de/wissen/geschichte/2016-12/ns-zeit-adolf-hitler-atombombe-entwicklung-werner-heisenberg-kernphysik/komplettansicht - eingesehen am 05.01.2017.

 

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